Christel Stuhldreier: Das Vergessen und das Erwachen

Unsere Leserin Christel Stuhldreier hat uns diese wunderbare Geschichte über das Vergessen und das Erwachen zugesendet. In Ihrer Geschichte geht es um ein kleines Drachenmädchen, dass es liebte, allein durch die Wiesen zu streifen, Sie war zudem sehr neugierig und erkundete gerne auf eigene Faust die Gegend um ihr Zuhause.

Das kleine Drachenmädchen liebte es allein durch die Wiesen zu streifen, Sie war neugierig und erkundete gerne die Gegend. Es gab so viele Tiere, denen sie dabei begegnete und die sie begleiteten. Große und kleine und auch die Schmetterlinge, die von einer Blume zur anderen flogen. So vieles gab es zu sehen, so viele Blumen zu beschnuppern.

Sie hatte soviel Spaß dabei, hüpfte herum und ihre Flügelchen, die noch ganz klein waren, zitterten vor Begeisterung.

„Es ist so schön, ein kleiner Drachen zu sein und die Welt zu erkunden!“

Oft vergaß sie die Zeit und darauf zu achten, in der Nähe ihres Zuhauses zu bleiben. Oft war es schon Abend und sie war weit weg von Zuhause, aber sie hatte keine Angst.

Sie wusste, sie würde wieder nach Hause finden. Und wenn ihre Füße zu müde waren, hatte sie herausgefunden, dass ihre Flügelchen, wenn sie sie bewegte, ihr halfen, große Sprünge zu machen. So kam sie schneller nach Hause.

Ihre Mutter, der große und schwere Drache, mochte es immer weniger, dass sein Drachenmädchen den ganzen Tag alleine unterwegs war. Sie machte sich Sorgen. Das Drachenmädchen versprach immer wieder, in der Nähe zu bleiben, aber wenn sie auf der Wiese war, vergaß sie, was sie versprochen hatte. Und sie war neugierig.

Voller Sorge sah die Drachenmutter, dass die Flügelchen ihres Mädchens, die bis jetzt so zart und klein waren, inzwischen kräftiger geworden waren. Sie selbst hatte keine Flügel; sie hatte als kleiner Drache welche. Ihre Flügel waren nicht weiter gewachsen, sondern verkümmert.

Vor langer Zeit hatte ein weiser Drache, ein Vorfahre verkündet, ab jetzt sollte ein Drache keine Flügel mehr haben. Ein Drache sollte mit beiden Beinen auf der Erde bleiben. Das wäre seine Bestimmung. Und von da an war es so.

Nachdem die Flügel der Drachen nicht mehr trainiert wurden oder sogar auf dem Rücken festgebunden wurden, verkümmerten sie. Und die Drachen verleugneten, dass ihre Vorfahren fliegen konnten. Sie wollten sich nicht mehr daran erinnern.

„Es ist den Drachen nicht erlaubt, die Flügel zu trainieren und zu fliegen“.

Das hatte sie auch ihrem Drachenmädchen deutlich gemacht. Aber so wie sie an den Flügelchen erkennen konnte, hielt sich ihr Kind nicht dran. So blieb der Drachenmutter nichts anderes übrig, als ihr Drachenmädchen an eine Kette zu legen, die an ihrem linken Fuß mit einem Ring um das Gelenk befestigt wurde. An einem großen Stein wurde die Kette festgemacht. Die Kette war lang, sehr lang; Ihr Kind sollte ja weiter über die Wiese hüpfen können. Aber nur über die Wiese ganz nah an ihrem Zuhause.

Das Drachenmädchen wurde wütend als sie merkte, dass sie wegen der Kette nicht mehr weiter weg konnte. Irgendwann spannte die Kette, Sie kannte bald die ganze Wiese und sehnsüchtig erinnerte sie sich an ihre wundervollen Ausflüge, von denen sie immer müde aber glücklich zurückgekehrt war.

Es war außerdem schwierig, mit der Kette am Bein das Fliegen zu üben. Eine tiefe Traurigkeit befiel sie und es dauerte nicht lange, und sie wurde krank. Dem großen Medizinmanndrachen, den ihre Mutter aus Sorge um ihr Kind holte, gelang es, mit Gesängen und Beschwörungen die Krankheit zu vertreiben.

Das Drachenmädchen wurde wieder gesund, aber ihre Neugierde und ihre Freude, die Welt zu erforschen, waren mit der Krankheit verschwunden. Viel lieber blieb sie jetzt zuhause, saß vor der Höhle und schaute in die Ferne, als ob sie auf etwas wartete. Ihr Flügelchen hatte sie, nachdem sie wieder gesund war, vorsichtig in eine kleine Kapsel gepackt, denn sie brauchte sie nicht mehr. Ein Drache darf sowieso nicht fliegen, sondern soll mit beiden Beinen auf der Erde leben.

Niemand wusste, dass in der kleinen Kapsel, die sie an einer zarten Schnur um den Hals trug, ihre kleinen Flügelchen versteckt waren. Nie hätte sie sie wegwerfen können. Sie gehörten doch zu ihr, zu einer Zeit in der sie sehr glücklich, unbeschwert, frei gewesen war. Mit der Zeit vergaß das Drachenmädchen die Kette an ihrem linken Fuß; sie lernte damit zu leben. Irgendwann vergaß sie die Kapsel, die um ihren Hals hing und sie vergaß auch, dass sie ein Drache war, der die Fähigkeit hatte, fliegen zu lernen und zu fliegen zu können.

Der große Drache beobachtete die Veränderung und war beruhigt, dass ihr Kind nicht mehr auf ihren Streifzügen unterwegs war, sondern unter ihrer Aufsicht und Kontrolle war. Außerdem gefiel es ihr, dass ihr Drachenkind, ihre Bestimmung ein „bodenständiger Drache“ zu sein, akzeptiert zu haben schien. Sie widersprach ihr nicht mehr, sondern hatte sich gefügt.

Zunächst bemerkte der junge Drache es nicht, dann aber nahm sie wahr, dass eine Unruhe sich ihrer immer mehr bemächtigte. Sie suchte sich eine andere Höhle, um sich den Blicken und der Beobachtung des großen Drachens zu entziehen. Sie wollte nicht reagieren, nicht reden, nicht denken, nicht fühlen. Sie wollte RUHE.

Lange Zeit saß sie vor ihrer Höhle wie versteinert. Als die Unruhe und Angst immer mehr zunahm, zog sie sich in ihre Höhle zurück und verschloss den Eingang. Die Rufe des Mutterdrachens ignorierte sie. Ihre Höhle war für den großen Drachen nicht zugänglich. Die Höhle wurde zu ihrem Schutzraum. Dort fühlte sie sich sicher; dort war es warm, still und niemand störte sie. In ihrer Höhle gab es einen See, in den sie sich legte und in dem sie die Zeit und allen Schmerz, Unruhe und Angst, aber auch alle Freude vergaß. Es vergingen die Jahre.
Und dann, nach langer Zeit stieg sie als junge Drachenfrau aus dem Wasser und folgte einer Öffnung in der Höhle, die sie jetzt erst bemerkt hatte. Es war der Zugang zu einem schmalen Gang, durch den sie sich tastete. Er war dunkel und eng, aber dann wurde es heller und der Gang öffnete sich zu einem Ausgang , der den Blick und den Zugang auf einen großen See freigab.

Sie sah einen See mit einer silberschimmernden Oberfläche auf dem sich die Sonnenstrahlen widerspiegelten. Der See war umgeben von grünen Hügeln und Bergen. Das war ihr neuer Platz. Es genügte ihr, da zu sitzen und auf den See zu schauen; es machte sie ruhig. Irgendwann bemerkte sie aus ihren Augenwinkeln eine Bewegung. Es war ein silbergrauer Wolf, der sich in einer gewissen Entfernung niedergelassen hatte. Er saß da, beobachtete sie. Sie fühlte sich sicher, irgendwie beschützt. Der Wolf näherte sich in den nächsten Wochen immer ein Stückchen näher und dann saßen sie gemeinsam, nebeneinander vor der Höhle und blickten auf den See.

Dann eines Tages erhob sich die Drachenfrau und ging auf den See zu. Schritt für Schritt ging sie ins Wasser und nahm nahe des Ufers ein Bad. Sie tauschten die Blicke, der Wolf und sie, und sie erkannte an seinen Augen, dass er verstand. Als sie aus dem Wasser stieg, sah sie einen breiten Ring um ihr linkes Fußgelenk. Die Kette, die daran befestigt war, war weg. Als sie sich eine eigene Höhle gesucht hatte, hatte sich die Kette, die an dem Stein befestigt war, gelöst. Sie hatte es damals nicht wahrgenommen.

Eines Tages, als sie und der Wolf wie immer vor der Höhle saßen, bemerkte sie plötzlich die Kapsel, die an einer hauchzarten Schnur um ihren Hals hing. Sie nahm sie ab, öffnete sie und entdeckte ihre kleinen Flügel, die sie vor vielen Jahren abgenommen und darin in Sicherheit gebracht hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ihr treuer Begleiter, der Wolf sah ihr zu und als sie ihn anblickte, nickte er. Sie nahm die Flügelchen vorsichtig aus der Kapsel und befestigte sie da, wo sie hingehörten. Das hatte sie nicht vergessen. Immer wieder hatte ihr Rücken an den Stellen geschmerzt. Die kleinen Flügel hafteten sofort und verschmolzen mit ihrem Rücken. Sie stand auf und schaute ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche des Sees an. Sie musste lächeln. Auch ihr Freund der Wolf schmunzelte und dann brachen sie in lautes Gelächter aus, das von den Bergen als Echo widerhallte. Sie wälzten sich beide vor Lachen am Boden. Denn, es sah schon sehr lustig aus –   der (inzwischen) große Drachen mit den winzigen Flügeln.

Jeden Tag bewegte sie ihre kleinen Flügel. Beim Herumgehen, beim Baden und Plantschen im See. Sie und ihr Freund tobten am Ufer herum, sie rannten um die Wette, und dann ließen sie sich, wenn sie außer Atem waren, einfach auf den Boden fallen und blieben liegen. Sie ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen und dösten vor sich hin. Wenn sie im See badete, blieb der Wolf am Ufer und schaute ihr zu. Ihr Leben machte Spaß, es war so, als ob eine Leichtigkeit sie erfüllte. Sie fühlte sich „beflügelt“.

Während sie sonst nebeneinander vor der Höhle saßen und den See, die Landschaft, die Berge anschauten, hatte sie jetzt immer wieder Lust darauf, sich zu bewegen, Ausflüge zu machen und die Gegend zu erkunden. Alleine wagte sich der junge Drache nicht weit weg von ihrem Platz am See, weil sie Angst hatte, den Weg zurück nicht wieder zu finden. Wichtig war, dass sie ihren Platz noch sehen konnte. Glücklich und zufrieden lang sie dann, nach einem kleinen Ausflug an ihrem Platz vor der Höhle, neben ihr der Wolf. So wie sie als kleiner Drache ihre Flügelchen bewegt hatte, machte sie das jetzt auch. Bald ging es von selbst. Und so wurden ihre kleinen Flügel kräftiger und größer. Ihr Freund, der Wolf war immer da. Oft durchstreifte er die Wälder, die am See lagen oder er lag im Schatten am Ufer des Sees und sah ihr zu. Auch wenn sie ihn manchmal nicht sah, wusste sie, er war immer in ihrer Nähe.

Sie legte sich so gerne in das kristallklare Wasser des Sees und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Und man konnte dann immer ein Lächeln auf ihrem Gesicht sehen. Regelmäßig schwamm sie auch im See und so wurden ihre Flügel noch kräftiger und größer.

Eines Nachts fiel ihr auf, dass sich auf der Oberfläche des Wassers von der Mitte des Sees aus, Strahlen ausbreiteten und den ganzen See zum Leuchten brachten. Von da ab sah sie jede Nacht dieses Strahlen. Einige Tage später nahm sie allen Mut zusammen, holte tief Luft und tauchte in das klare Wasser. Mit Hilfe ihrer starken und großen Flügel tauchte sie tiefer und tiefer. Und da sah sie ihn: Ganz tief am Grunde des Sees lag ein großer Kristall, der in allen Türkisfarben schimmerte, ja strahlte.

Und sie hörte, wie er zu ihr sprach:   „Ich habe auf dich gewartet, viele Jahre.

Du hast mich zum Leuchten gebracht.

Da wusste ich, dass du in der Nähe bist und                                                               dass du kommen wirst.

Nimm mich mit, denn wir gehören zusammen.

Wir sind eins. Ich bin du und du bist ich.“

Und sie schwamm ganz nahe an den Kristall heran und hob ihn hoch.In diesem Moment verschmolzen sie zu einer Einheit, der Drache und der Kristall, und es legte sich ein türkisglänzender Schimmer auf ihren Körper und ihre Flügel. Sie tauchte aus dem Wasser auf und ging ans Ufer, wo der Wolf auf sie wartete. Sie schauten sich an und sie wussten beide, dass es jetzt soweit war, den See zu verlassen. Von den schönen Blumen, die überall wuchsen, pflügten sie einen großen Strauß. Dann sprang der Wolf mit dem Strauß auf ihren Rücken und sie erhob sich mit ihren Flügeln, die inzwischen sehr groß und stark geworden waren, in den Himmel.

Der Drache und der Wolf flogen über den See, an dem sie gemeinsam stille und auch lebendige, fröhliche Zeit verbracht hatten. Sie flogen über den Platz vor der Höhle, an dem sie gemeinsam gesessen waren. Sie flogen über den Berg in der die Höhle war, in der sie alleine so viele Jahre verbracht hatte. Und da sahen sie, weit unten, einen Drachen sitzen. Es war der Mutterdrache, der sehr alt geworden war. Sie flogen eine Runde über sie hinweg und gingen tiefer. Aufmerksam geworden durch den großen Schatten, der über sie hinweg flog und das Flügelschlagen, das sie hörte, erhob der alte Drachen ihren Kopf und schaute nach oben. Ihre Augen waren trüb geworden, doch sie konnte die vielen wundervollen, bunten Blumen sehen, die auf sie herabschwebten. Der junge Drache und der Wolf sahen den Blumen nach und da spürte der junge Drache, dass der Ring an ihrem linken Fußgelenk aufsprang und sich auflöste.

„Endlich frei!“ jubelte der Drache, und sie und der Wolf flogen höher und höher und weiter und weiter.

© Christel Stuhldreier

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