Annas Engel
Von Glennyce Eckersley
Es dauerte mehrere Stunden, um von Annas Haus in London zu ihrer Tante Mabel im Norden Englands zu fahren. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihre liebe Tante nicht regelmäßiger besuchte. Mabel stand kurz vor ihrem 100. Geburtstag und lebte in einem Pflegeheim, wo sie gut versorgt wurde, aber keine Familie oder Freunde in der Nähe hatte, die ihr Gesellschaft leisten konnten. Anna war beruflich sehr eingespannt, hatte lange Arbeitszeiten und an den Wochenenden fehlte ihr oft die Kraft, so weit zu fahren. An diesem Wochenende wusste sie jedoch davon, dass ihre Tante sehr schwach war, und beschloss, alles zu tun, um nach ihr zu sehen. Es war ein wirklich wunderschöner Besuch. Ihre Tante war überglücklich, sie zu sehen, und Anna verbrachte gerne Zeit mit ihr. Sie unterhielten sich stundenlang über die Zeit, als Anna noch ein kleines Mädchen war und sie sich in jeder Hinsicht nahe gestanden hatten. Mabel hatte nie eigene Kinder gehabt, ihre kleine Nichte war ihr ein und alles. Der Besuch dauerte weitaus länger als eingeplant, und als Anna schließlich abreiste, war es später Nachmittag; sie fühlte sich ziemlich hungrig und müde. Beim Fahren fiel ihr ein Schild mit der Aufschrift „Teeladen“ auf, das sie zu einem hübschen kleinen Café auf dem Lande führte.
Es war inzwischen dunkel geworden, und obwohl der Laden noch hell erleuchtet war, schienen keine weiteren Gäste da zu sein. Gespannt ging Anna hinein. Eine kleine alte Dame erschien hinter dem Tresen und schenkte Anna ein umarmendes Lächeln. Anna entschuldigte sich für ihr spätes Erscheinen und fragte, ob sie noch eine Tasse Tee bekommen könnte. Die alte Dame strahlte und sagte, es sei immer Zeit für einen weiteren Gast. In Windeseile brachte sie einen warmen Snack und eine wunderbare Kanne Tee. Anna war so dankbar und fühlte sich sofort wie neugeboren. Sie bedankte sich bei der Dame und setzte ihre Fahrt dann glücklich und entspannt fort.
Am folgenden Wochenende wollte Anna ihre Tante erneut besuchen, da sie wusste, dass für Mabel vielleicht nur noch wenig Zeit übrig war. Wieder erlebte sie einen wirklich schönen Besuch und fühlte sich ihrer geliebten Tante sehr nahe. „Danke, dass du gekommen bist“, sagte Mabel, „du bist ein Engel!“ Der Satz zauberte ein Lächeln auf Annas Gesicht. Auf dem Heimweg, diesmal viel früher am Nachmittag, beschloss sie, noch einmal in den Teeladen zu gehen. Diesmal war der Laden sehr gut besucht, die Kunden schwatzten und es duftete herrlich nach frischen Backwaren. Nachdem sie den Tee und einen Apfelkuchen genossen hatte, bezahlte Anna am Tresen und fragte, ob die ältere Dame, die so freundlich gewesen sei, heute auch arbeiten würde. Die Verkäuferin fragte verdutzt nach: „Welche Dame?“ Anna erzählte von der warmherzigen Begegnung. Die Verkäuferin war völlig verwirrt: „Wie sah sie denn aus?“ Das war leicht zu beantworten, denn die alte Frau hatte ein sehr markantes Aussehen gehabt. Sie war klein, hatte ein wunderschönes, rundes, fröhliches Gesicht und tiefblaue, glitzernde Augen. Ihr Haar war weiß und lockig und umgab ihren Kopf wie eine fröhliche kleine Wolke. Die Verkäuferin entgegnete daraufhin: „Sie irren sich wirklich, das kann nicht der Teeladen sein, den Sie besucht haben. Zum einen seien hier alle ziemlich jung, selbst der Besitzer sei erst 30 Jahre alt. Und: „Wir haben noch nie eine alte Dame bei uns arbeiten lassen. Auch hatten wir den Laden letzten Samstagmittag geschlossen, weil eine der Kellnerinnen geheiratet hat und wir alle eingeladen waren.“
Zu sagen, dass Anna erstaunt war, wäre eine Untertreibung gewesen. Sie war sich sicher, dass es genau dieser Teeladen war und ebenso, dass eine reizende blauäugige, freundlich zwinkernde alte Dame so freundlich zu ihr gewesen war. Es dauerte nicht lange, bis ihr die Erklärung klar wurde: „Nicht ich bin ein Engel“, lächelte Anna, „aber ich habe in diesem kleinen Teeladen einen getroffen, das ist sicher. Er hat sich mir gezeigt, weil ich mir so viel Zeit für meine Tante Mabel genommen habe. Die wichtigsten Menschen sind nicht die, die den Kopf voller Wissen haben … es sind die, die ein Herz voller Liebe haben, Ohren, die bereit sind zuzuhören, und Hände, die bereit sind zu helfen.“
„Alle Engel Gottes kommen immer verkleidet zu uns.“
James Russell Lowel
Glennyce Eckersley