Bruder Otto Stahl: Vom Punk zum Eremiten – die tief bewegende Geschichte eines Suchenden

Eine Klause mitten im Schwarzwald, fernab von Trubel und der Hektik unserer Zeit: Bruder Otto ist Eremit und hat sich ganz bewusst für die Abgeschiedenheit entschieden.
Er erzählt von seinem bewegten Leben als früherer Punk, Zen-Mönch in einem japanischen Kloster und wie er schließlich als Einsiedler findet, wonach er immer gesucht hat: Ruhe, Frieden und innere Einkehr. Hier spricht er über Einsamkeit, Demut und seine Erfahrungen mit der Stille.
Von Bruder Otto Stahl
Wissen Sie, dass Demut auch eine Form von Macht ist? Jesus hat es uns gezeigt, auch der heilige Franziskus. Vermeintlich starke Gegner rechnen nicht damit, dass in der Offenbarung von Schwäche wahre Stärke liegt. Deshalb will ich lieber in Demut besiegt werden als mit Stolz siegen. Demütig sein bedeutet, zuerst an andere zu denken, und das ist zu meinem Lebensmotto geworden: Ich will nicht der Erste sein, sondern der Letzte.
Nachdem im Jahr 2020 die Pandemie über uns hereinschwappte, nahm ich überall um mich herum Demut wahr, als die Menschen Hilfsbedürftige fragten, ob und wie sie sie unterstützen könnten. Die COVID-Zeit ist nicht vorbei, doch die Demut hat sich vielerorts verflüchtigt. Oder denken wir an die sozialen Medien, an Facebook, Instagram und TikTok: Wo ist dort Demut zu finden? Dort ist jeder der Größte, der Beste und der Schlaueste. Jeder führt ein glänzendes und erfolgreiches Leben, jeder holt für sich stets das Optimum heraus.
Ich kann mit so etwas nicht aufwarten. In der Schule war ich keine Leuchte. Als ich meine Lehre als Buchdrucker abschloss, starb dieser Beruf von heute auf morgen sang- und klanglos aus. Ich war Punker, ich trank zu viel, ich versuchte sogar einmal vergeblich, mich umzubringen. Ich wusste überhaupt nicht, wo mein Platz im Leben war. Trotzdem kam mir nie in den Sinn, dass womöglich mangelnde Demut der Ausgangspunkt meiner Sinnkrise war. Kommt Ihnen das, zumindest teilweise, irgendwie bekannt vor?
Inzwischen ist viel Zeit vergangen, oder wie man in Wolfach sagt, wo meine Klause im Wald liegt: „Es ist viel Wasser den Bach runtergegangen.“ Ein sinniger Spruch in einer Gegend, wo die Flüsse Kinzig und Wolf zusammenkommen und wo in alten Zeiten die Wolfacher Bäume fällten und zu langen Flößen zusammenbanden, um auf ihnen „hinab ins Land“ nach Rotterdam zu fahren. Sie hatten eine Aufgabe, die Wolfacher, und das sage ich heute ihren Nachkommen, wenn sie den Pilgerweg aus dem Städtchen hoch zu mir in die Einsiedelei nehmen: „Wir alle haben eine Aufgabe auf dieser Erde. Noch bevor wir auf die Welt kamen, sprachen wir mit Gott darüber, was wir zu tun und zu lassen haben. Angekommen auf der Erde, hat der Verstand die Aufgabe vergessen, doch wir tragen sie tief in unserem Herzen. Daher machen wir uns auf die Suche. Auf dieser Suche lernen wir – hoffentlich – die Macht der Demut kennen.“
Ich bin auch so ein Suchender. Die Suche hat mich zum Eremiten gemacht, doch ich bin alles andere als weltabgewandt. Die Menschen kommen zu mir in meine Klause, und ich gehe zu ihnen. Zum Beispiel für die Sterbebegleitung, die mich vor allem in der Pandemie-Zeit stark gefordert hat.
Ein junger Bursche, gerade mal sechzehn Jahre alt, lag wegen COVID im Sterben. Als ich an seinem Bett saß und seine Hand hielt, fragte er mich: „Bruder Otto, warum muss ich schon sterben?“ Ich bin überzeugt davon, dass dieser junge Mensch seine Herzensaufgabe bereits bewältigt hatte. Und wenn wir unsere Aufgabe erledigt haben, wird es Zeit für uns zu gehen. Das sagte ich ihm auch: „Weil du alles schon getan hast.“ Und wie alle, die ich in den Tod begleite, ging auch er mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich habe noch niemanden begleitet, bei dem das nicht der Fall war.
Und doch ist es für mich jedes Mal eine neue Übung in Demut. Ein alter Herr, ein echtes Original aus dem Städtchen, gab mir darin eine Lehrstunde. Solche Menschen bezeichnet man in unsere Ecke Deutschlands als „knitz“, was so viel heißt, dass sie auf liebenswerte Weise gewitzt sind. Die Wahrheit sprechen sie gern mit einem Lächeln aus, so auch dieser alte Herr, an dessen Sterbebett ich saß. „Otto“, sagte er zu mir, „ich sterbe, aber komm du mal von deinem hohen Ross runter, denn eines Tages gehst auch du.“ Warum er das sagte? Weil man in jeder Lebenssituation seine Demut verlieren kann, auch ich. Es ist unsere fortwährende Aufgabe, an ihr zu arbeiten – genau wie ein Sportler seine Muskeln trainieren muss und ein Musiker auf seinem Instrument übt.

Der Weg in die Stille

Immer wieder kommen Menschen bei mir vorbei und fragen: „Bruder Otto, wie hältst du diese Stille hier oben aus?“
Ich muss lächeln, weil ich es gar nicht so still finde wie meine Besucher. Wir sind im Schwarzwald, das ist nicht das Ende der Welt, was bedeutet: Auch wenn sie weit entfernt sind, vernehme ich die Geräusche der Autos und Lkws auf der Bundesstraße tief unten im Tal. Diese durchschneidet das Kinzigtal und dient als Querspange vom Rhein in Richtung Schwäbische Alb und Bodensee und ist entsprechend stark befahren. Am Himmel sehe ich nicht nur die Kondensstreifen der Flugzeuge in Richtung Stuttgart, Basel, Zürich und Straßburg, sondern höre – wenn auch gedämpft – den Lärm der Turbinen. Dazu rauscht der Wald rund um die Sankt-Jakobs-Kapelle gewaltig und es plätschert das Wasser eines Bächleins, das seine tiefe Rinne in den Waldboden gegraben hat. Unsere Welt ist voller Geräusche, selbst in meiner Einsiedelei. Und auch ich werde manchmal selbst recht laut.
Habe ich schon erwähnt, dass ich leidenschaftlicher Musiker bin? Das liegt bei uns in der Familie: Mein Vater ist ein Virtuose auf dem Akkordeon. Mein Bruder spielt Schlagzeug in Profi-bands. Mir selbst hat es der Bass angetan. Aber auch auf einer Stufe kleiner bin ich unterwegs. Dann hole ich die Ukulele hervor.
Dieses Instrument, das aussieht wie eine Minigitarre, hat eine spannende Entwicklung hinter sich: 1879 brachte ein Auswanderer ein ukuleleähnliches Instrument von Portugal nach Hawaii. Dort wurde es verfeinert, wanderte nach Nordamerika und kam wieder zurück nach Europa. Man kann alles darauf spielen, von Folk über Rock bis zum Jazz, und das gefällt mir. Dazu singe ich mit Inbrunst und erfreue damit Wolf, Fuchs und Hase, die mit mir die Waldeinsamkeit teilen – und manchmal auch den einen oder anderen Pilger, den sein Weg zu mir führt.
Nun kennt jeder Musiker, der sein Metier ernsthafter betreibt, die Situation im schallgedämmten Aufnahmestudio. Von draußen dringt kein Lärm herein, drinnen vernimmt man die Schritte auf dem Boden nicht, dafür hört man das eigene Blut in den Ohren rauschen. Selbst erfahrene Musiker werden da nervös.
Auf einmal verursacht nicht mehr Lärm den Stress, sondern die ungewohnte Stille. Denn die Stille wirft uns immer auf uns selbst zurück.

Die Frage ist, wenn wir uns selbst sehen: Gefällt uns das, was wir dann sehen? Manche Menschen tendieren zur Selbstkritik, andere stehen darüber. Beides bringt einen nicht unbedingt weiter. Denn eines ist auch klar: Hätte ich in meinem Leben nicht all die Erfahrungen gemacht, die ich gemacht habe, stände ich heute nicht da, wo ich jetzt stehe. Und genauso geht es Ihnen bestimmt auch. Hand aufs Herz: Irgendwas geht immer schief – wir bleiben nur dann von Fehlern verschont, wenn wir gar nichts tun, und das wiederum ist auch ein Fehler, weil es weder uns noch der Menschheit nützt. Aber: Gar nichts tun geht nicht. Selbst ein einsamer Mönch in der Wüste tut sehr viel: Er sorgt mit seinen Gebeten und seiner Meditation für einen Ausgleich der Kräfte. Viel wissen wir noch nicht über die Gesetze der morphogenetischen Quantenphysik, doch nach und nach findet die Wissenschaft heraus, wie sehr es unser eigenes Leben berühren kann, wenn der berühmte Sack Reis in China umfällt. Anders gesagt: Alles, was wir tun, hat Auswirkungen auf alle und alles. Wir Menschen tragen zur Wirkkraft des Universums bei. Machen wir uns das bewusst, denn so wird uns klar, dass wir Teil der Schöpfung sind und Gott in uns tragen. Ich bin ein großer Verfechter der Impulstheorie, und es sind göttliche Impulse, die uns antreiben. Wir können uns das wie ein Kugelpendel vorstellen, das manche Leute auf ihren Schreibtisch stellen. Eine Kugel wird in Schwingung versetzt, stößt die nächste Kugel an, diese gibt die Schwingung weiter, und so geht es fort, bis die letzte Kugel auf der gegenüberliegenden Seite angestoßen wird.

 

Praxisübung: Wofür sind Sie dankbar?

Dankbarkeit eignet sich sehr gut dafür, um uns mit unserer Gefühlswelt zu verbinden. Dazu brauchen Sie sich nur ein paar Minuten Zeit zu nehmen: Notieren Sie sich einfach zehn Dinge in Ihrem Leben, für die Sie dankbar sind. Ich mache das gerade auch und notiere, was mir in den Sinn kommt, ohne den Verstand darüber urteilen zu lassen:

Ich bin dankbar dafür, dass ich diese Zeilen schreiben darf.
Ich bin dankbar für die Klause, in der ich lebe.
Ich bin dankbar für den Waldspaziergang, den ich heute gemacht habe.
Ich bin dankbar für die gute Luft, die ich hier einatmen darf.
Ich bin dankbar für meine Kapelle nebenan, wo ich jeden Tag Gespräche mit Gott führe.
Ich bin dankbar dafür, dass so viele Menschen in Wolfach immer mal wieder den Weg zu mir hoch finden.
Ich bin dankbar für das Frühstück heute Morgen.
O ja, ich bin auch dankbar für die Tasse Kaffee, die mich in Schwung gebracht hat.
Ich bin dankbar für mein Morgengebet.
Ich bin dankbar für das BächIein, das mir von draußen seine Musik vorspielt.
Ich bin dankbar für … ach, es sind schon zehn?

Sie sehen, das ist gar nicht schwierig. Wiederholen Sie das Ganze am nächsten Tag, und schreiben Sie wieder zehn Dinge auf, für die Sie dankbar sind. Da werden Neue dazukommen, aber vielleicht auch nicht, es ist egal. Am übernächsten Tag geschieht dasselbe, und so fahren Sie fort, bis eine Woche vorbei ist. Sie werden feststellen, wie rasch Sie den wesentlichen Themen Ihres Lebens nahekommen. Sie öffnen Ihre Gefühlswelt, und nichts anderes ist Intuition. Nach dieser Woche werden Sie sensibel sein für Ihre Umwelt. Und wenn wir sensibel sind, können wir Impulse, die unserem Leben eine neue Richtung geben wollen, viel einfacher spüren und ihnen folgen.

Kein bisschen einsam

Vielleicht haben Sie wie viele Menschen auch eine etwas verklärte Sichtweise auf das Leben eines Eremiten im 21. Jahrhundert. Manche meiner Besucher sind fast ein wenig enttäuscht, weil ich nicht in einer Höhle lebe mit nur einer Kerze darin. Kommen wir dann ins Gespräch, heißt es trotzdem schnell: „So allein und abgeschieden könnte ich nicht leben.“ Ich erwidere dann, dass ich keineswegs allein lebe, und damit meine ich nicht, dass man mich in den sozialen Netzwerken kennt. Ich spreche davon, dass Gott immer bei mir ist und er sich in allen Lebewesen rund um meine Klause manifestiert – und das sind wirklich viele! Lenke ich dann die Unterhaltung darauf, dass viele Menschen ungewollt einsam sind, erlebe ich häufig einen nachdenklichen Gesprächspartner. Viele kennen „diese alte Frau“ oder „den etwas kauzigen Mann“, die „niemanden haben“. Da bohre ich dann gern mal nach: „Wenn Sie diese Menschen kennen und auch wissen, dass sie einsam sind – tun Sie was dagegen?“ Meist ist die Antwort betroffenes Schweigen.
Es ist seltsam: Unsere Gesellschaft ist derart auf Kommunikation und Austausch aus, weshalb Facebook und Instagram boomen, und doch verlieren sich immer mehr Menschen in unfreiwilliger Einsamkeit. Das hat die Corona-Pandemie noch verstärkt. In vielen Städten leben die Leute auf engstem Raum und haben nichts miteinander zu schaffen. Mein nächster Nachbar wohnt einige Kilometer weit entfernt, doch wir kennen uns gut.
Gegen Einsamkeit gibt es ein Rezept mit drei Zutaten: Aufeinander zugehen. Miteinander sprechen. Zuhören. Diese Zutaten kann jeder von uns mit ein bisschen gutem Willen verwenden.

Praxisübung: Die Einsamkeit aufbrechen

Vielleicht tun Sie das ja schon, doch für viele Menschen ist es ein schwer zu überwindendes Hindernis: 
Wenn Sie das nächste Mal einem obdachlosen Menschen begegnen oder einem Bettler, der auf der Straße Almosen erbittet, geben Sie ihm bitte nicht nur einen Obolus, sondern sprechen Sie ihn an. Überwinden Sie Ihren Widerstand! Seien Sie freundlich, gehen Sie nicht einfach vorbei. Tragen Sie dazu bei, die Einsamkeit eines Menschen aufzubrechen, der am Rande der Gesellschaft lebt.
Ich habe die Einsamkeit selbst gewählt und bin mir des Privilegs meiner eigenen Entscheidung bewusst. Schließlich hatte ich genügend Zeit, um mich auf sie vorzubereiten. Man wird nicht hopplahopp Eremit. 
Ich habe einen sehr langen Weg hinter mir, es fehlt nur noch die Zielgerade. Und dabei musste ich auch erfahren: Der Weg in die Einsiedelei ist mit überraschenden Hindernissen gepflastert.

Es gibt nur einen liebenden Gott, keinen strafenden, auch wenn meine Kirche über die Jahrhunderte hinweg ein anderes Bild gezeichnet hat. Weil ich das Bild des liebenden Gottes vermitteln wollte, weil ich schon viel Erfahrung in der Sterbebegleitung gesammelt hatte, und auch, weil ich als Eremit für meinen Lebensunterhalt sorgen muss, war es meine Absicht, in Wolfach in der Altenpflege mitzuarbeiten. Dort nahm man mich freudig auf. Auch wenn der Weg dorthin vor allem im Winter beschwerlich ist, machte mir die Arbeit von Anfang an viel Freude. Werde ich gefragt: „Wie jetzt? Der Einsiedler arbeitet?“, was in dieselbe Richtung geht wie „Ach, Sie leben nicht in einer Höhle?“, erzähle ich gern von meinen Beweggründen.
Bei der Sterbebegleitung habe ich mich mit COVID angesteckt. Und während ich diese Sätze formuliere, befinde ich mich mitten in der Chemotherapie aufgrund meiner Krebs-Erkrankung. Deshalb geht alles ein bisschen langsamer, aber wir haben ja Zeit, nicht wahr? Hauptsache ist, wir geben nicht auf. Ja, mein Leben gleicht einer Pilgerreise, doch ich bin mir sicher: Ihres auch! Wir sind Pilger auf der Reise zu Gott. Die Erfahrungen, die wir unterwegs machen, sind das, was wir am Ende als „mein Leben“ bezeichnen. Das zeigt schon mal, dass es nicht auf schnöden Besitz ankommt, sondern darauf, unsere Zeit auf Erden so gut wie möglich zu nutzen, für uns und für unsere Mitmenschen, Genießen Sie diese Zeit, denn sie ist ein wertvolles Geschenk.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein herzliches „Gott sei mit Ihnen“. Und falls Sie einmal nach Wolfach kommen, schlagen Sie doch den Weg durch den Wald nach Sankt Jakob ein.
Bruder Otto starb am 25. September 2022, kurz nach Fertigstellung seines Buchs. Sein ansteckender Optimismus, sein unerschütterliches Vertrauen in Gott und sein ebenso verschmitzter wie tiefgründiger Humor leben in seinem Buch weiter.
Bildnachweis ©SonjaHerpich

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