Nadine Stegelmeier: Warum gelten die Rauhnächte als besondere Zeit?

Manchmal geschieht es, dass die Zeit selbst den Atem anhält. Zwischen den Jahren, wenn die Stunden zu fließen scheinen wie Schnee im Wind, öffnet sich ein unsichtbares Tor: ein Spalt zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen dem Sichtbaren und dem, was nur mit geschlossenen Augen zu erahnen ist. In diese schweigende Zwischenzeit fallen die Rauhnächte – jene zwölf geheimnisvollen Nächte, von denen unsere Vorfahren glaubten, sie lägen außerhalb der gewöhnlichen Ordnung der Welt. Wer sich bisher noch nicht mit ihnen befasst hat: die Rauhnächte sind gleichsam Legende und Brauchschatz, mythische Erzählung und lebendige Tradition.

Was sind die Rauhnächte?

Die Rauhnächte gelten als heilige Zeitspanne, in der die Grenzen zwischen der Welt der Menschen und den unsichtbaren Sphären dünn wie Eis im Tauwind werden. Es ist eine Phase des Innehaltens, der Rückschau und der inneren Einkehr, in der die Vergangenheit wie ein altes Buch aufgeschlagen vor uns liegt und das kommende Jahr als unbeschriebenes Blatt flüstert. Man sagt, in diesen Nächten werde die Zukunft geboren: jede Nacht steht symbolisch für einen Monat des kommenden Jahres. Was sich in Träumen, Gedanken und Zeichen zeigt, könnte ein stiller Hinweis sein auf das, was kommen mag.

Wann beginnen und enden die Rauhnächte?

Traditionell zählen die Rauhnächte zwölf Nächte, beginnend meist am 24. Dezember, in der Heiligen Nacht, und endend am 6. Januar, zum Fest der Heiligen Drei Könige. In manchen Regionen beginnt die erste Rauhnacht bereits am 21. Dezember, zur Wintersonnenwende – wenn die längste Nacht des Jahres die Wiedergeburt des Lichtes einleitet. Doch unabhängig davon, welche Berechnung man wählt, bleibt ihr Kern derselbe: Sie umschließen jene Zeit, in der das Jahr stirbt und neu entsteht, in der das Licht zurückkehrt und die Dunkelheit ein letztes Mal wie ein dunkler Atem über den Feldern liegt.

Woher stammt der Name „Rauhnächte“?

Der Name selbst ist wie ein Rätsel. Manche sagen, er komme vom Wort „rau“ – von den rauen, wilden Nächten, in denen die Stürme heulen und die Geister der Natur wie Schatten durch die Wälder ziehen. Andere führen ihn auf das Wort „Rauch“ zurück, denn es war Brauch, Häuser und Ställe in diesen Nächten mit heiligen Kräutern auszuräuchern: Wacholder, Beifuß, Salbei – um alles Dunkle zu vertreiben und das Licht einzuladen. Und wieder andere erkennen im Namen ein Echo alter germanischer Wörter, die auf das Wilde, Ursprüngliche verweisen – jene Kräfte, die nur in dieser Zwischenzeit ihren Weg in die Welt der Menschen finden.

Wo liegen die Ursprünge der Rauhnächte?

Die Ursprünge verlieren sich tief im Schatten der Zeit. Lange vor dem Christentum kannten germanische und keltische Stämme die „Zwölften“, jene Zwischenzeit zwischen alten und neuen Mondzyklen. Nach dem alten Mondkalender fehlten zwölf Tage, die nicht in die gewöhnliche Zeitrechnung passten. Diese „toten“ Tage wurden zu Nächten außerhalb der Zeit, zu einem magischen Raum, in dem Götter, Ahnen und Naturwesen nah beieinander wanderten. Später verbanden sich christliche Motive mit heidnischen Vorstellungen, und die Rauhnächte wurden sowohl zur heiligen Zeit des Christkinds als auch zum Erbe uralter Winterrituale.

Wieviele Rauhnächte gibt es?

Es sind (in der gängigsten Zählvariante mit der Christnacht als erste Rauhnacht) zwölf Nächte – jede von ihnen ein Tor zu einem der kommenden Monate. Die erste Rauhnacht steht für den Januar, die zweite für den Februar – und so fort bis zur zwölften, die den Dezember symbolisiert. Wer achtsam in diesen Nächten lebt, kann die leisen Botschaften hören: Träume, Begegnungen, Gedanken, die sich wie Federn im Winterwind niederlegen und einen Hauch von Zukunft in sich tragen.

Warum gelten die Rauhnächte als besondere Zeit?

Weil sie uns erinnern, dass auch wir nicht nur im hellen Rhythmus des Alltags leben, sondern Teil eines größeren Kreislaufes sind. Die Dunkelheit zeigt uns, was wir sonst nicht sehen – die Ruhe, den Wandel, das Verborgene. In den Rauhnächten wird die Zeit selbst zum Ritual: Man räuchert Räume, reinigt die Gedanken, gedenkt der Ahnen, schreibt Wünsche für das kommende Jahr auf kleine Zettel und verbrennt sie im Feuer, damit der Rauch sie den Sternen übergibt. Man lauscht dem Wind, der in den kahlen Zweigen erzählt, und erkennt vielleicht für einen Augenblick, wie nah das Wunder liegt.

Ein Weg zwischen den Jahren

Die Rauhnächte sind keine Pflicht und kein starres Regelwerk, sondern eine Einladung: innezuhalten, nachzuspüren, bewusst zu leben. Sie bringen uns nicht nur begründete Traditionen, sondern auch ein Gefühl von magischer Tiefe zurück. Während draußen Schnee fällt oder die Wolken grau über die Landschaft ziehen, wird drinnen das Licht entzündet – Kerzen, Räucherwerk, Geschichten. Vielleicht ist dies das wahre Geheimnis der Rauhnächte: dass wir in der Dunkelheit lernen, unser eigenes Licht zu finden.

Wer das erste Mal von ihnen hört, mag sie für ein Relikt alter Zeiten halten. Doch gerade heute, da die Tage wie Pfeile vergehen und Stille ein seltenes Gut geworden ist, schenken uns die Rauhnächte etwas Kostbares: das Gefühl, dass Zeit nicht nur vergehen, sondern sich auch öffnen kann. Dass zwischen dem Ende und dem Anfang ein unsichtbarer Raum liegt – und dass in diesem Raum alles möglich ist.

Text Nadine Stegelmeier 
Bilder Ralf Stegelmeier 

Über die Autorin


Geboren und aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Niederbayern kam Nadine Stegelmeier schon früh mit der Natur und ländlichem Brauchtum in Berührung. Bereits im Kindesalter erwuchs also das Interesse für alte Überlieferungen, historische Gegenstände, Traditionen und Geschichte allgemein. In einem Studium der Geschichts- und Literaturwissenschaften an der Universität Erfurt konnte die Faszination für diese Themenbereiche mit Fachwissen kombiniert werden. Privat beschäftigt sich die Autorin unter anderem mit dem Sammeln althergebrachter Sagen und Märchen sowie dem Erhalt alter Handarbeitstechniken.
Instagram: abendsang

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