Barbara Pachl-Eberhart: Das Wunder erster Schritte

Der Herbst ist da. Das schreibt Barbara Pachl-Eberhart hin, ganz ohne zu zögern – und fühlt sich doch bei einer recht gewagten Behauptung ertappt. Wer mich kennt, weiß, wie gerne ich mich von Jahreszeiten inspirieren lasse. Weiß, dass die Farbe des Himmels, der Tanz eines Ahornblattes im Wind, oft den Stups zum Anfang geben.

So will ich es auch diesmal halten. Ich schreibe also: Blätter tanzen, Trauben reifen, der herrliche Herbst ist da. Seltsam. Ich schreibe diese Zeilen nämlich – die redaktionelle Vorarbeit am besten aller Magazine haben es so an sich – mitten im August, im höchstbesten Sommer dieses Jahrhunderts. An meinen Fensterscheiben, da spielen noch die Wespen Kamikaze. Der Geruch von angewärmtem Holz schlängelt sich wendig durch die offene Balkontür. Ich bin erst vor kurzem vom Urlaub nach Hause gekommen und immer noch ziemlich brezelbraun. Und ich muss Ihnen dringend von einem Wunder erzählen, das mir auf meiner sommerlichen Reise begegnet ist.

Wir, das Wunder und ich, haben uns diesmal sogar mehrmals getroffen. Ungefähr so, wie man dieselben sonnenverbrannten Australier erst an der Eisdiele, später im Museum und abends auch noch im Fischlokal trifft – und dann, Wunder über Wunder, am nächs­ten Tag wieder, im staubigen, winzig skurrilen Bergdorf, hundert Kilometer vom Ausflugsziel des Vortags entfernt. Genau so war es heuer mit dem Wunder und mir. Zum ersten Mal trafen wir uns auf einem Gletscher in Südtirol, eine Woche später in Assisi, dann in den Weinbergen der Via Fracigna und drei Tage später noch einmal am Parkplatz des Nassfeldpasses. Und erst da, bei unserem vierten Rendezvous, habe ich das, was mir wieder und wieder begegnet ist, als Wunder erkannt.

Stellen Sie sich vor: Sie suchen im bestbesuchten Touristenhotspot der Toskana einen Parkplatz für Ihren Wagen. Das Parkhaus ist besetzt, Sie ziehen drei großräumige Runden um den Berg der Basilika, ehe Sie doch murrend die Straße bergab rollen, auf der Sie gekommen sind, und einen Parkplatz akzeptieren, der zwanzig Minuten Fußweg bedeutet (hätten Sie den Parkplatz sofort genommen statt zu kurven, stünden Sie jetzt übrigens schon längst in der Giotto-Kapelle). Sie steigen aus. Mühsam setzen Sie die ersten Schritte, schleifen die Sandalen trotzig über den Beton. Doch bald finden Sie einen guten Rhythmus, schon haben Sie sich an die Steigung gewöhnt. Sie lachen auf: Seltsam … hatten Sie nicht vor einer Woche gerade das Bergsteigen in Italien zu Ihrem Tagesprogramm gemacht? Warum nicht auch jetzt den Berg genießen, der vor Ihnen liegt?

„Möchtest du mit mir eine Runde spazieren?“ Mein Mann, zwei Tage später. Ich döste im klimatisierten Hotelzimmer, schüttelte den Kopf. Es war doch gerade so bequem! Weil ich mich überreden ließ, fand mich mein Wunder denn doch. Es saß neben einem Rebstock, winkte mir zu. „Na, noch träge?“ Nein! Das Gehen machte Spaß, schon nach wenigen Schritten war ich in Schwung. Noch einmal hätte ich beinahe Nein gesagt.

Am Heimweg aus Italien überquerten wir den Pass nach Kärnten. „Aussteigen, eine kleine Runde?“ „Ööhm … na gut.“ Schon wieder: die Faulheit, dann ein erster, ein zweiter Schritt im Freien, schon geht es sich wie von selbst. Ich fühle mich wie ausgewechselt. Was sagt mir mein Wunder? Die Hürden der Bequemlichkeit sind überall. Sie lullen uns ein und machen uns weis, dass es nur einen passenden Rhythmus gibt, nämlich den, in dem wir gerade verharren. Das Wunder muss schon ordentlich pusten, um unsere Sohlen mit einem Hauch von Leben zu inspirieren.

Aber dann … geht es so schnell. So schnell! Wie viele Hürden gibt es da wohl noch, die mit wenigen Schritten überwunden, getilgt und durch Freude ersetzt wären? Als wacher Mensch muss ich mich fragen, ob die Hürde, die noch, scheinbar, zwischen mir und den syrischen Menschen im Auffanglager besteht, nicht ebenso leicht zu durchbrechen wäre. Ob meine Kraft, etwas zu bewirken, vielleicht nur ein, zwei erste Schritte braucht, um ungeahnten Schwung zu befreien. Ob die Autotür am Nassfeld nur eine von vielen Türen ist, die mein Wunder mir öffnen will. Der Herbst ist da. Was für eine gute Zeit, um weiter spazieren zu gehen. Und das Wunder der ersten Schritte auszuprobieren. Wo? Überall da, wo es ein winziges Bisschen zu gemütlich ist.

 

Barbara Pachl-Eberhart, 39, war Clown. Sie hat bei einem Zugunglück ihre beiden kleinen Kinder und ihren Mann verloren. Mit beeindruckender Kraft fand sie ins Leben zurück und schrieb über ihre Tragödie einen Bestseller („Vier minus drei“). Heute lebt sie als spiritueller Coach und als Schriftstellerin in Wien. Für das ENGELmagazin geht sie auf die Suche nach den kleinen Wundern des Alltags. www.barbara-pachl-eberhart.at

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