Dr. Hans Christian Meiser: Gemeinsam bin ich besser

Die Gewissheit, nicht alleine bestehen zu müssen, tritt immer mehr in den Vordergrund, seitdem klar ist, dass die Probleme der Welt niemand mehr alleine lösen kann. Wie kam es dazu? Wohin mag das führen? Was können wir tun? Was müssen wir tun?

Die protestantische Theologin Dorothee Sölle führte einst die „riesige Hoffnungslosigkeit“ der Europäer auf die Vereinzelung des Individuums zurück. Die Geschichte scheint ihrer These recht zu geben: Je mehr die Gesellschaft auseinanderdriftet, ihre Mit-Glieder der Ich-Sucht und einem gnadenlosen Egoismus verfallen und jede Form des bindenden Gemeinschaftsgefühls schwindet, umso mehr gerät sie in Gefahr, mit den gegenwärtigen Modellen des Zusammenlebens und des Umgangs miteinander auf allen Ebenen zu scheitern. Für die Krise innerhalb von Familie, Wirtschaft und Politik kann die „Abkehr vom Wolfsrudel“, jene Ablösung des Gemeinschaftsgedankens durch den Egozentrismus und die damit verbundene Ausrottung des in Vor-Zeiten herrschenden Wir-Gefühls verantwortlich gemacht werden. Dieses war nötig, um das Überleben der Sippe, des Clans, des Stammes zu gewähren. Heute, im Zeitalter des Hyperindividualismus gibt es dieses Wir-Gefühl zwar nach wie vor, doch es ist aus der realen in die digitale Welt übersiedelt: Die sogenannten „sozialen“ Netzwerke, die mitunter auch ziemlich unsozial sein können, haben die Aufgabe eines virtuellen Zusammenhalts übernommen.

ANSÄTZE DER HOFFNUNG

Aber auch jenseits der Welt von Bites und Bytes gibt es Ansätze zur Hoffnung: Führende Köpfe und Vertreter wichtiger gesellschaftlicher Gruppen haben mittlerweile erkannt, dass es alleine nicht mehr geht, dass wir die drängenden Probleme einer globalisierten Welt, in der verschiedene Wertvorstellungen miteinander konkurrieren, nur noch gemeinsam lösen können, da in einer derart verflochtenen Zeit wie der modernen jeder von jedem und alles von allem abhängig ist. Wirkliche Autonomie bedeutet heute: vernetzt leben. Ein sichtbares Zeichen des Hungers nach Gemeinsamkeit setzten schon vor zwanzig Jahren die Besucher aller Konfessionen des 25. Deutschen Evangelischen Kirchentages: Sie verknüpften sich mit 5000 Metern Band, um aus diese Weise ein – nicht nur ökumenisches Netz – zu symbolisieren. Solidaritätskundgebungen wie Sternmärsche oder Lichterketten unterstreichen, dass sich eine Vision von Gemeinsamkeit in weiten Teilen der Gesellschaft entwickelt hat. Auch der nicht umsonst so erfolgreiche Film „Avatar – Aufbruch nach Pandorra“ erzählt von dieser Ursehnsucht des Menschen – in jener berühmten Szene, in der alle Bewohner des fernen Planeten geschlossen um ihren Weltenbaum sitzen und sich gemeinsam im Rhythmus ihrer Seelenklänge wiegen. Es ist diese Rückbesinnung auf die Ur-Horde, die uns solche Szenen als besonders schön und erstrebenswert erachten lassen. Alleine sind wir nichts – gemeinsam aber werden wir nicht nur stark, wir erleben uns auch durch die vermehrte Ausschüttung des Kuschel- und Bindungshormons Oxytocin als Einheit mit jenen, die wir zuvor noch als „Andere“, als „Fremde“ wahrgenommen haben.

VOM ICH ZUM WIR

Waren die 70er- und 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch exzentrischen „Ich-Dekaden“, in denen die Betonung individueller Wünsche und Selbstverwirklichung Hauptlebensinhalt war, entstand gewissermaßen als Gegenbewegung die „Wir-Dekade“ der 90er – und Millenniumsjahre; und dies nicht nur bei den Minderheiten der Gesellschaft, die ohnedies über ein Zusammengehörigkeitsgefühl verfügen müssen, um nicht unterzugehen. Heute rücken die Menschen trotz ihres ausgeprägten Individualismus notgedrungen wieder näher aneinander, denn die Gefahren des internationalen Terrorismus und des aktuellen Krieges haben ihnen gezeigt, wie verletzlich wir sind; die Corona-Pandemie war zudem ein Auslöser zur Rückbesinnung auf das „Wir“ par excellence, auch wenn autokratische Herrscher in aller Welt nach wie vor das „Ich“ predigen“. In vielen Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sind Netzwerke entstanden, die sich mittlerweile als Antworten auf die globalen Herausforderungen verstehen. Im Selbstverständnis des einzelnen Menschen aber muss trotzdem noch eine Lücke hinsichtlich des gemeinschaftlichen Handelns geschlossen werden. Es ist deutlich festzustellen, dass das Bedürfnis nach partnerschaftlichen Lösungen immer mehr wächst, sowohl in der Politik, als auch immer mehr in der Wirtschaft und sogar im soziologischen Kontext. Heute lässt sich ein zufriedenstellendes und erfolgreiches Leben nur noch in gemeinschaftlicher Anstrengung verwirklichen, wobei die Silbe „wir“, die sich in diesem Wort versteckt: ver – wir – klichen, schon darüber Auskunft gibt, dass bei der Gemeinsamkeit nicht nur jeder Beteiligte gewinnt, sondern auch dessen jeweiliges gesamtes Umfeld.

Wir können weiter Kriege gegen andere und gegen uns selbst führen, wir können unsere einzige und einzigartige Welt weiterhin zerstören, niemand hindert uns daran, uns immer wieder, Generation für Generation, umzubringen und uns das Leben, das ohnedies so kurz ist, zu nehmen – so, wie es seit dem Auftreten des Homo sapiens wohl täglich geschah und immer noch geschieht.

Aber es hindert uns auch niemand daran, Herzbäume zu pflanzen, wo immer wir den geeigneten Boden dafür finden. Grund genug dafür gibt es ja. Und dann können wir sagen: Ich bin zwar auch alleine gut, aber gemeinsam bin ich besser.

Den kompletten Beitrag finden Sie im Engelmagazin Ausgabe September/Oktober 2022. 

 

ENGELmagazin Autor Hans-Christian MeiserDr. Hans Christian Meiser, Philosoph , Bestsellerautor („Der Herzensheiler“) und Gründer der Beziehungsplattform „Julia & The Lovebirds“ (www.juliaandthelovebirds.com), zu der auch die „University of Love“ (www.universityoflove.de) gehört.

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