In der Welt ständiger Kommunikation haben wir die Einsamkeit verloren. Die Kunst, mit sich in Frieden alleine zu sein. Jetzt zwingt uns ein winziges Virus dazu, sich dieser Kunst wieder zu erinnern. Der Kunst, das Glück in sich selbst zu finden. Und das Wunderbare in den Menschen zu entdecken, die uns jetzt ganz nahe sind.
Wir sind dabei, das Wesentliche zu erkennen. Die Einsamkeit befreit uns von allem Überflüssigen. Sie macht unser Leben leichter, obwohl es momentan so schwer erscheint.
Das Gefühl, ohne eine Person zu sein, die einen sieht, versteht und umsorgt, kann zu Einsamkeitserleben führen. Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft schon länger ein wachsendes Problem. Durch die ungewollte Abgeschiedenheit sind jetzt plötzlich auch Menschen betroffen, die damit unvertraut und möglicherweise überfordert sind. Aber könnte diese ungewollte Abgeschiedenheit für manchen von uns gar eine Chance darstellen, um wieder zu sich selbst zu finden? Natürlich ist es normal, sehnsüchtig auf den nächsten Besuch von außen zu warten. Wie wäre es, in der Zwischenzeit dich selbst zu besuchen und dir selbst liebevolle Gesellschaft zu sein?
Einsamkeit ist zutiefst menschlich
Einsamkeit ist keine Krankheit, sondern ein zutiefst menschliches Erleben. Unser Bedrohungssystem signalisiert damit, dass wir nach Verbindung „hungern“ oder „dürsten“. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass sich Menschen, die aufgrund von Gesundheitsproblemen sozial isoliert und stigmatisiert sind, sich einsam fühlen. Man kann jedoch auch mitten unter Menschen einsam sein. Im Gegensatz zum Alleinsein, was den Zustand von physischer Abgeschiedenheit von anderen beschreibt, bezieht sich Einsamkeit auf ein subjektives Erleben. Es fehlt eine Vertrauensperson, die einen versteht, sieht, liebt und wertschätzt.
Wenn Einsamkeit chronisch wird, kann sie uns psychisch und physisch krank machen. Unser Organismus verweilt in einem andauernden Zustand von existentieller Bedrohung. Man fühlt sich mutterseelenallein, ganz verletzlich und angreifbar. Das ist Stress pur! Angst, Scham und Misstrauen aufgrund von Enttäuschung schaffen einen Teufelskreis.
Dazu eine kleine praktische Selbstmitgefühls-Übung in drei Schritten:
Erstens: Achtsamkeit. Nimm drei tiefe und entspannende Atemzüge. Spüre wie du von der Erde getragen wirst. Spüre deinen Körper und nimm die Emotionen wahr. Benenne sie so gut du das kannst. Einsamkeit, Angst, Scham, Misstrauen, Verzweiflung, Sehnsucht oder andere? Erkenne sie alle als zutiefst menschlich und nachvollziehbar an. Wenn du magst, lege eine Hand auf eine Körperstelle, wo sich Berührung jetzt unterstützend für dich anfühlt. Spüre diese Unterstützung durch dich selbst.
Zweitens: Gemeinsames Menschsein. Obgleich wir uns in Momenten von Einsamkeit völlig getrennt fühlen, werde dir bewusst, dass jeder Mensch Augenblicke von Einsamkeit erlebt und du in diesem Moment nicht allein damit bist. Auf der ganzen Welt erleben jetzt Menschen Momente von Einsamkeit. Mehr als je zuvor. Vielleicht kennst du eine Person, die du magst und von der du weißt, dass auch sie Situationen von Einsamkeit erlebt oder erlebt hat?
Drittens: Selbstfreundlichkeit. Anstatt dich für die Einsamkeit zu schämen und dir Vorwürfe zu machen, versuche dem einsamen Teil in dir freundlich zu begegnen, so wie du es dir von einem Freund wünschen würdest. Wenn Angst da ist, magst du dir gewahr werden, dass es im Außen praktische Unterstützung gibt und du ein kompetenter Erwachsener bist, nicht mehr angreifbar wie als Kind. Wenn ein Teil in dir über das trauert, was dir gerade fehlt, dann tröste dich. Wenn ein Teil beschämt ist, dann entlaste ihn dadurch, dass du dich für einen Moment einen ganz normalen Menschen sein lässt, der wie alle manchmal Einsamkeit verspürt. Wenn dir das schwer fällt, dann stelle dir vor, was du von einem dir wohlgesonnen Menschen gerne Unterstützendes hören würdest.
Bewusst erlebte Einsamkeit führt zu sich selbst und zu mehr Verbundenheit
Wenn wir bewusst mit diesen zutiefst menschlichen Momenten von Einsamkeit umgehen, nutzen wir sie als Chance für Wachstum. Anstatt nach außen zu schauen und zu hoffen, von dort unsere Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, können wir den mutigen Schritt nach innen gehen. Wir entdecken eine liebevolle Verbindung zu uns selbst. Wir bringen uns Mitgefühl für die eigene Traurigkeit, Verlassenheit und Verletzlichkeit entgegen. Aus dieser wohlwollenden und wertschätzenden Haltung uns selbst gegenüber erlauben wir uns Beziehungen nährender zu gestalten und beginnen das Alleinsein zu genießen.
Dr. Christine Brähler ist Psychologische Psychotherapeutin und Dozentin. Master- und Doktorabschlüsse hat sie an der University of Edinburgh erlangt und ist seitdem Honorary Lecturer an der University of Glasgow. Als einer der ersten Psychologen in Europa lehrt sie seit 2008 Selbstmitgefühl. Sie ist Ausbilderin im Programm Mindful Self-Compassion/Achtsames Selbstmitgefühl (MSC) und bietet international Lehrerweiterbildungen und innovative Seminare über Selbstmitgefühl an.