In seinen jungen Jahren stellte Shiva Ryu viele Fragen. Er fragte nach der Wahrheit und der Erleuchtung, nach dem Glück und dem Sinn des Lebens und danach, wer er wirklich ist. Heute versteht er, dass uns das Leben die Antworten erst nach und nach gibt. Es ist ein Prozess, der Jahre dauert. Damals wusste er das noch nicht.
Ich hatte noch nicht begriffen, dass sich die Rätsel des Lebens nur mit Erfahrung entschlüsseln lassen. Ich bereiste zahlreiche Länder und las viele Bücher, stets auf der Suche nach Lehrern und Meistern, doch es war das Leben selbst, das mir Erkenntnis brachte. Wir denken, wir machen eine Reise, dabei „macht“ die Reise uns, indem sie uns formt. Kein Dichter ist wie der andere, und kein Schriftsteller kann einen anderen ersetzen. Jedes neue Gedicht hat zuvor nicht existiert, jedes neue Buch hat es so noch nicht gegeben. Ganz gleich, ob man Texte verfasst oder nur liest: Zu leben bedeutet, seine eigene Geschichte zu schreiben. Nicht die Erwartungen oder Vorgaben anderer zu erfüllen, sondern eigene Antworten zu finden.
Der Abstand zwischen zwei Herzen
Ein buddhistischer Meister ging mit seinen Schülern zum Fluss, um ein Bad zu nehmen. Als sie am Ufer entlanggingen, begegneten sie einem Mann und einer Frau, die plötzlich anfingen, sich wütend anzuschreien. Die Frau hatte beim Baden ihre Kette verloren, und als der Mann ihr deshalb Vorwürfe machte, fing sie lauthals zu schimpfen an. Der Lehrer blieb stehen und fragte seine Schüler: „Warum schreien Menschen, wenn sie wütend sind?“ Nach kurzem Nachdenken antwortete einer: „Schreit man nicht, weil man die Fassung verliert?“ Ein anderer vermutete: „Liegt es nicht daran, dass die Wut die Vernunft lähmt?“ Da fragte der Lehrer erneut: „Aber warum werden sie so laut, wo doch der andere direkt vor ihnen steht? Die Stimme zu erheben sorgt doch nicht dafür, dass man besser verstanden wird. Kann man nicht genauso gut leise sprechen, um zu vermitteln, was man sagen möchte?“ Und noch einmal stellte er die Frage: „Warum also schreien Menschen, wenn sie wütend sind?“ Jeder der Schüler schlug irgendwelche Gründe vor, aber keine der Antworten schien den Kern der Frage zu treffen. Schließlich erklärte der Meister: „Menschen haben das Gefühl, vom Herzen des anderen unendlich weit entfernt zu sein, wenn sie wütend sind. Sie schreien, um diese Distanz zu überbrücken. Sie glauben, dass sie ihr Gegenüber in der Ferne nur erreichen können, wenn sie ihre Stimme erheben. Je aufgebrachter sie sind, desto lauter schreien sie. Je mehr der eine schreit, desto wütender wird der andere, und desto größer wird die Distanz zwischen beiden. Und so werden ihre Stimmen immer lauter.“
Der Meister deutete auf das zunehmend in Rage geratende Paar: „Wenn sie so weitermachen, entfernen sich ihre Herzen so weit voneinander, bis sie am Ende füreinander gestorben sind. Dann können sie noch so sehr brüllen, sie werden das tote Herz niemals erreichen. Und sie werden noch lauter schreien.“ „Was passiert, wenn sich zwei Menschen verlieben?“, fragte der Meister als Nächstes und fuhr fort: „Wer sich liebt, spricht leise und mit sanfter Stimme. Das liegt daran, dass Liebende ihren Abstand zueinander als überaus gering empfinden. Es besteht also kein Grund, sich gegenseitig anzubrüllen. Je inniger die Liebe, desto mehr schwindet die Distanz zwischen den Herzen, bis an den Punkt, an dem es keiner Worte mehr bedarf und die beiden Seelen miteinander verschmelzen. In diesem Zustand reicht es, einander anzusehen. Die beiden verstehen sich ohne Worte. So ist das mit der Wut und der Liebe.“
Psychologen haben herausgefunden, dass nur 10 Prozent aller Konflikte auf tatsächliche Meinungsverschiedenheiten zurückzuführen sind. Die restlichen 90 Prozent resultieren aus einem unangemessenen Ton und Missklängen in der Stimme. Das Stimmvolumen ist kein Maß für das Rechthaben. In Beziehungen, in denen viel geschrien wird, sind die Herzen weit voneinander entfernt. In dem Versuch, sich dennoch Gehör zu verschaffen, wird die Lautstärke nach oben geregelt, was die Distanz noch einmal vergrößert. Das Schweigen nach dem Streit ist ein Zeichen dafür, dass auch die Herzen schweigen.
Man verläuft sich nicht, selbst wenn man sich verirrt
Irgendwann beschloss ich, illegal in die USA einzuwandern und nach New York zu gehen, und man fragte: „Muss das sein?“ Als ich nach zwei Monaten mein ganzes Geld zusammenkratzte, um mich in ein indisches Meditationszentrum zurückzuziehen, erntete ich befremdete Blicke. Alle meinten, ich sei wohl nicht ganz bei Trost, und rieten mir, in New York zu bleiben. Als ich nach Seogwipo auf die Insel Cheju ging, wo ich keine Menschenseele kannte, sagten sie, ich würde vereinsamen, kamen dann aber zu jeder Jahreszeit angereist, um bei mir Urlaub zu machen. Zwei Jahre später kehrte ich nach Seoul zurück, und alle fragten mit sichtlichem Bedauern, weshalb ich so einen schönen Ort verlasse. Immer wieder musste ich mich fragen lassen, eigentlich leben wolle oder ob ich nicht zu leichtsinnig sei. Auch dass ich nicht normal sei, bekam ich zu hören.
Lesen Sie den ganzen Artikel im ENGELmagazin März/ April 2022.
Shiva Ryu ist einer der erfolgreichsten Autoren Koreas. Seine Bücher standen 21 Mal auf verschiedenen Bestsellerlisten. 1959 in Okcheon, Südkorea, geboren, lebt er seit 1988 in verschiedenen Meditationszentren in den USA und Indien. Aktuelles Buch im
Scorpio Verlag: „Ein fliegender Vogel blickt nie zurück. Die Freiheit nach dem Loslassen.“ Illustriert von Elicia Edijanto. Erhältlich auch unter: www.mondhaus-shop.de