Wir waren inzwischen auf der Autobahn 61, hatten uns bis Koblenz vorgearbeitet. Noch gut einhundert Kilometer bis nach Hause. Aber erst mal runter vom Gas & durch die Baustelle. Wir waren auf der linken Spur unterwegs, rechts von uns fuhr ein Lastwagen, der uns gefährlich nahe kam. Zumindest wirkte es so, sagt Angie Berbuer.
Für mich sah es aus, als wollte der Lkw auf unsere Spur wechseln, ohne zu bemerken, dass wir neben ihm fuhren. Als wären wir kleine Ameisen, übersehen von einem Riesen. „Der Lkw ist sehr nah“, sagte ich zu meinem Freund Dario; ich hatte das Gefühl, in die riesigen Reifen gesogen zu werden, die sich so dicht neben mir drehten, dass mir schwindelig wurde. Und dann titschten wir schon hin und her zwischen der Leitplanke und dem Lastwagen rechts.
Es war dunkel und kalt und es regnete, als ich Darios Heckklappe öffnete, um nach dem Warndreieck und Warnwesten für uns beide zu suchen. Dario stand links von mir, ein paar Zentimeter neben dem Auto. Und dann war ich plötzlich weg. Weg, weil dieser Moment alles änderte. Weil diese Sekunden mein erstes Leben beendeten und einen Teil von mir sterben ließen. Meine Erinnerung an diesen Riss in meinem Leben ist ausgelöscht und begraben. Weg. Genauso wie das Leben, das ich kannte. Ich wachte erst anderthalb Tage später auf der Intensivstation im Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz wieder auf. Ohne Beine und mit zertrümmertem Gesicht. Ich habe meine Beine später nicht mehr gesehen, denn die waren direkt ab. Sie wurden beim Aufprall zwischen dem Krankentransporter und Darios Fahrzeug zerrieben. Ich wachte ohne Beine auf, aber mit einem zweiten Leben, in das ich mit meinem Aufwachen hineingeboren wurde.
Wenn man mit den schlechten Dingen hadert, die passieren und man sich ständig fragt: „Was wäre gewesen wenn?“, müsste man dann nicht auch die guten Dinge infrage stellen, sie prüfen, drehen und wenden, bis sie nicht mehr gut sind? Wieso standen meine beiden Ersthelfer so weit vorn in dem Stau, den wir produzierten, dass sie sofort helfen konnten? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass gleich zwei Menschen zur Stelle waren, die berufsbedingt eine spezielle Erste-Hilfe-Ausbildung und beide (!) ein lebensrettendes Tourniquet, also eine Aderpresse, im Gepäck hatten, sodass sie meine Stümpfe professionell abbinden konnten und mich so vor dem Verbluten retteten? Wieso geschah der Unfall so nah am Krankenhaus, dass ich die Fahrt dorthin überleben konnte?
Alle diese Fragen stelle ich nicht, denn keine davon kann ich beantworten. Und keine davon muss ich beantworten.
Das Einzige, was ich muss, ist, dankbar sein. Mich meines Überlebens freuen. Die Dinge annehmen, wie sie sind, wenn es nicht in meiner Macht steht, sie zu ändern oder zu verstehen. So halte ich es bei den negativen und den positiven Dingen des Lebens. In guten wie in schlechten Zeiten. Niemand hadert mit seinem Glück, oder? Warum also mit seinem Unglück hadern? Was ich allerdings sagen muss: Das Schicksal hat Ironie. Ein Krankentransporter bringt mich fast um? Das klingt, als hätte das Schicksal in sich hineingekichert.
Ich werde oft gefragt, ob der Fahrer des Krankentransporters später – also viel später, natürlich nicht an der Unfallstelle – auf mich zugekommen ist, um mit mir zu reden. „Um sich zu entschuldigen“, meinen die meisten wohl, auch wenn sie „mit mir reden“ sagen. Ja, das ist er. Und nein, ich wollte es nicht. Ich hadere zwar nicht mit meinem neuen Leben, aber ich gebe dem Fahrer trotzdem Schuld. Das Schicksal befreit uns nicht von Verantwortung, enthebt uns nicht der Folgen unseres Handelns. Er hat die Unfallstelle übersehen. Er hat jede Menge Warnsignale übersehen. Stehende Autos, blinkende Warnlichter, ein aufgestelltes Warndreieck.
Autos, blinkende Warnlichter, ein aufgestelltes Warndreieck. Anfangs wollte ich deshalb nicht mit ihm sprechen. Es ging vornehmlich darum, dass er sich besser gefühlt hätte, wenn wir miteinander geredet hätten, nicht darum, dass es mir dadurch besser gegangen wäre. Ich kann ihn verstehen, man will eine solche Last loswerden, sich Schuld oder Verantwortung von der Seele reden, sich vielleicht auch einfach nur erklären oder um Vergebung bitten.
Die Verantwortung, die er mir damit auferlegte, wollte ich trotzdem nicht. Später wollte ich nicht mehr mit ihm sprechen, weil ich das Ganze hinter mir gelassen hatte. Ich spreche heute ungern über den Unfall, habe keine Lust, die ganzen Details ein weiteres Mal hervorzukramen, weil ich es schon so oft getan habe. Ich bin nicht nur mein Unfall. Ich bin kein Totalschaden. Meine Beine ja, die haben einen Totalschaden erlitten. Darios Auto auch. Meine Lieblingsleggins ebenfalls. Aber mein Leben nicht. Im Gegenteil.
Den ganzen Artikel mit der berührenden Geschichte finden Sie im ENGELmagazin Juli/ August 2022.
Angie Berbuer (23) lebt mit ihren Hunden in Köln und arbeitet als Content Creator. Nach ihrem Unfall 2019 ist sie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen. „Aufgeben“, sagt sie, „war nie eine Option.“ Angie gilt als TikTok- und Instagram-Star. Unzähligen Menschen hat sie seitdem mit ihrer Offenheit, ihrem Humor und ihrer Präsenz Mut gemacht. Aktuelles Buch im Topicus-Verlag „Mein Glück ist meine Entscheidung. Wie ich meine Beine verlor und mein Lächeln behielt.“ Taschenbuch: 9,99 € · Kindle: 2,49 €
ISBN: 978-2-49671-054-0
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