Der Umsteiger: Von Übermut zur Demut

Vom Investment-Hai zum Berg-Wirt – die Geschichte eines Aussteigers.

Rudolf Wötzel macht als junger Mann das, was man von ihm erwartet. Was sein Vater erwartet, was seine Familie erwartet. Er macht Karriere. Er ist Investmentbanker, einer der Großen in seinem Gewerbe. Ein Hai, ein Spezialist für feindliche Firmenübernahmen, privat daheim, wo das große Geld daheim ist, in einer Villa am Zürichsee. Aber er verlor sich. Und ein wohl beispielloser spiritueller Weg bringt ihn zurück zu sich selbst.

Er geht von Salzburg nach Nizza. 1800 Kilometer zu Fuß, über 129 Gipfel, über 33 Viertausender. Ein Weg, auf dem er Demut lernt, verlieren lernt, das erste Mal verlieren lernt. Heute ist er Wirt auf 1650 Meter Höhe im traumhaften Schweizer Berghaus „Gemsli“, hält Seminare und schreibt Bücher. Auszüge aus seinem Buch „Über die Berge zu mir selbst“ (Ansata-Verlag):

Alles begann an einem Tag in seinem Büro, als Rudolf Wötzel von dort aus durch das Fenster auf die Passanten in der Fußgängerzone blickte. Er ist Managing Director einer global agierenden Investmentbank und es bereitete ihm Mühe, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Erst war es nur ein flüchtiger Gedanke gewesen, der vor einigen Wochen aus dem Nichts auftauchte und zunächst wieder verschwunden war. Doch der Gedanke kehrte zurück, zaghaft zunächst, dann wieder und wieder, in immer kürzeren Abständen. Er forderte, weitergedacht, präzisiert zu werden. Er übernahm unaufhaltsam eine Hauptrolle im inneren Dialog Rudolf Wötzels. Inzwischen war der Gedanke zur Idee, war die Idee zur Vision geworden, ein permanenter überaus hartnäckiger Begleiter. Ein Virus, das allmählich alle Fasern des Bewusstseins befallen hatte. Rudolf Wötzel nahm seinen Regenschirm, verließ das Büro und ging hinüber in die große Buchhandlung. Er kaufte eine Landkarte, die erste von vielen. Region Salzburger Land. Die Inkubationszeit war vorbei, das Virus war ausgebrochen.

Die Reifen knirschen im Kies, als das Taxi auf dem Parkplatz vor den Toren Salzburgs rollt. Der Wagen hält, ich zahle und steige aus. Die ersten Eindrücke meines neuen Lebens sind elementare sinnliche Erfahrungen, wie die schüchternen Atemzüge eines Neugeborenen. Ich atme die Erwartung des kommenden halben Jahres ein: Unbeschwertheit und Freiheit, Fülle an Zeit, die Ahnung von Gefahr und Abenteuer. So fühlt es sich also an. Der Beginn meiner langen Wanderung zu mir selbst. Alles, was ich in den nächsten Monaten zu meiner Verfügung haben werde, trage ich in einem Rucksack auf dem Rücken. Um mich herum ist nur noch Natur. Und Stille. Mein Herz klopft. In den Voralpen angekommen, erscheinen mir die Gebirgszüge aus karstigem, grauen Kalkgestein harmlos. Die idealen Aufbaugegner für den kommenden Gipfelstürmer…

…Wie schnell es kühl wird hier draußen! Dankbar beziehe ich das Nachtquartier. Es ist keineswegs meine erste Nacht in den Bergen, als Kind bin ich mit meinem Vater oft relativ weit hoch gewandert. Doch jetzt ist alles anders! Ich komme mir vor wie ein kleiner Junge, der ein Spielzeug enthält, das er noch nicht recht zu benutzen versteht. Das kleine Zimmer mit den eingebauten Schlafnischen, den karierten Bettbezügen und dem kleinen Fensterchen, es gleicht einer Puppenstube: Erinnerungen an die unkomplizierte und heitere Seite meiner Kindheit werden wach. Mein Wunsch nach innerem Frieden und Geborgenheit hätte keine bessere Projektionsfläche vor meinem Augen erschaffen können…

…Wie ein Murmeltier in der Sonne dösend, verweile ich auf der Holzbank und blinzle versonnen in die Ferne. Am Horizont eine Parade prachtvoller, schneebedeckter Berggipfel, wie mit einem scharfen Messer aus dem stahlblauen Himmel ausgestochen. Und da ist sie, die innere Ruhe, die ich gesucht habe. Der Moment wunschlosen Glücks, wonach ich mich so lange sehnte. Hier, auf der Holzbank, in der heiteren Frühlingssonne, finde ich Freude und Frieden. Einfach so. Bilder aus meiner Kindheit kommen hoch. Mein Vater und ich, wir beide in den Bergen. Sorgenfrei und unbeschwert. Erinnerungen, die lange verloren schienen. Denn ein anderes Vaterbild hatte sich wie eine starre, hässliche Kruste darüber gelegt: sein strenges Gesicht, seine verkrampfte Miene, Worte, die einfach gnadenlos waren. Ein engstirniger Patriarch mit betonharten Ansichten und Erwartungen. In Gedanken bricht es regelrecht aus mir heraus: „Vater, ich habe immer alles getan, was du von mir verlangtest. Und ich bin unglücklich! Hast du das gewollt?“ Immer habe ich darauf gehofft, dass die Zeit eine Lösung brächte. Dass irgendwann der Tag käme, an dem sich diese Verbitterung löste, doch auf diesen Tag wartete ich vergebens. Bis zu dieser Stunde. Ein weiterer Stein meiner inneren Mauer fällt zu Boden…

…ich bin einfach glücklich. Warum eigentlich? Es ist wohl diese Art zu leben, die mir ein ganz ungewohntes Gefühl von Leichtigkeit und Aufgehobensein gibt. Jeden Tag ein klares Ziel vor Augen. In der Natur sein, frei vom Erwartungsdruck anderer Menschen. In einem schlichten, erdverbundenen Umfeld schalten und walten, wie es mir beliebt…

…wie habe ich mich früher abgemüht mit drögen Smalltalks, mich verstellt und dabei gelitten! Ich habe keine Lust mehr auf steife, artige Konversation! Entweder ich bringe mich so ein, wie ich bin, oder ich lasse es besser ganz…

…Der letzte Morgen ist anders. Heute wird meine Pilgerfahrt enden. Sie war nur Puffer zwischen dem alten und dem neuen Leben, nicht das neue Leben selbst. Jetzt erst, ab heute, beginnt die wahre Prüfung: ob mich meine Suche verändert, ob sie mich etwas gelehrt hat. Zur Freude, nun endlich anzukommen, es wirklich geschafft zu haben, gesellt sich eine gewisse Bangigkeit. Mit gemischten Gefühlen packe und schultere ich ein letztes Mal den Rucksack. Das nahende Ende beschwert die Leichtigkeit meiner Schritte. Denn eines ist gewiss: Aus dem liebgewonnenen Rhythmus meiner täglichen Rituale werde ich nun ausscheren. Ich denke daran, wie schwer es war, den Schritt aus der Karriere heraus zu tun. Jetzt will ich in ein selbstbestimmtes, hoffentlich glücklicheres Leben eintreten. Wird das noch schwieriger werden? Nein, ich habe doch alles gefunden, was ich suchte: Loslassen lernte ich auf meiner Pilgerfahrt, jeden Tag mein neues kleines Glück finden. Bescheidener wurde ich, kann jetzt auch die kleinen Freuden des Lebens in vollen Zügen genießen. Menschen, denen ich begegne, schaue ich ins Herz. Meine Bedürfnisse kenne nun. Also vorwärts ins neue Leben!

[author title=“Buch-Tipp“ image=“http://t1.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcR–hcgV5RDpwrom3tD9FF21gp-4KyLb_iLFHyR3MHdlvR0nsu9″]Rudolf Wötzel: „Über die Berge zu mir selbst: Ein Banker steigt aus und wagt ein neues Leben“
Verlag: Ansata-Verlag
ISBN: 978-3778792087[/author]

Foto: ohmschau.de

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