Dr. Hans Christian Meiser: Vom Wert des Zuhörens

Können wir noch zuhören? Oder verleitet eine immer lauter werdende Welt dazu, dass wir nur dem folgen, was unüberhörbar ist? In seinen Überlegungen macht Dr. Hans Christian Meiser deutlich, dass Zuhören weit mehr ist als eine Tugend. Zuhören ist Bestandteil des menschlichen Werdegangs – sowohl kollektiv wie auch individuell.

Entwicklungsgeschichtlich bedeutet dies, dass die Menschheit niemals an ihrem heutigen Standort angelangt wäre, hätte sie weggehört. Sie wäre nie das geworden, was sie heute – mit all ihren Schwächen – ist. Denn Evolution ist nur möglich, wenn wir zusehen und zuhören, und danach das so Erfahrene im je eigenen Leben umsetzen. Hier wird das Kollektive zum Persönlichen, Privaten.

Geben und empfangen
Und wenn wir uns nun einige Szenen vorstellen, in denen zugehört wird, dann werden wir verstehen, warum das so ist. Erstes Beispiel: Eine Karawane kommt in einer Oase an. Es wird Abend, man sitzt um das Feuer des Lagers und erzählt den Bewohnern von den Abenteuern der bestandenen Reise. Diese lauschen gespannt den Berichten – ganz wie Kinder es tun, wenn sie mit großen Augen und Ohren einer Geschichte zuhören. Zweites Beispiel: Ein Baby hört, was die Mutter spricht. Und es blickt diese an, als verstünde es genau den Sinn ihrer Worte. Es hört zu, nimmt wahr, es greift auf, was es akustisch erfassen kann. Durch das Zuhören entsteht eine tiefe Bindung zwischen Menschen, die derjenigen, die durch Blicke in das Innere entstehen, sehr ähnlich ist. Beide Beispiele zeigen aber, dass das Zuhören ein Sprechen voraussetzt, und das Sprechen wiederum ein Zuhören erfordert. Das Zuhören verändert etwas im sprechenden Gegenüber. Das Wort, das es ausspricht, kehrt verwandelt zu ihm zurück, sodass es danach ein anderes ist. Die Kraft des Gebenden und die des Empfangenden werden eins.

Zuhören und Zeit
Wie ist es, wenn einem niemand zuhört? Man spricht, habt etwas mit-zu-teilen, doch niemand hört einem zu? Und weshalb bedürfen gerade ältere Menschen guter Zuhörer? Nicht, weil sie etwas sagen wollen, nein, darum geht es in diesem Fall nicht, sondern um die Tatsache, dass sie verstanden, anerkannt, angenommen, geliebt werden wollen – dass man ihnen Zeit schenkt.

Anderen Zeit zu schenken, bedeutet, ihnen einen Teil der eigenen Lebenszeit zukommen zu lassen. Genau an dieser Stelle macht es sich bemerkbar, dass die Tugend des Zuhörens sogar mehr als eine Tugend ist. Es ist ein freiwilliges Geschenk, dem anderen, dem, den ich nicht einmal kennen muss, zuzuhören, ihm mein Ohr zu leihen, ihm zu lauschen, ihm Gehör schenken, aufmerksam zu sein, an seinen Lippen zu hängen, ihn etwas sagen zu lassen, ihn zu verstehen. Und letztlich ist er es, der mich zu meinem Reden überhaupt befähigt. Dadurch, dass wir einem anderen zuhören, wird in uns etwas ausgelöst, das nicht nur als Reaktion auf das Gehörte verstanden werden will, sondern das in seinem Urgrund Vernommenes ist, also etwas, das wir vom Gegenüber vernehmen.
Wenn wir einmal darüber nachdenken, wie oft wir dem anderen nicht zuhören, wie oft wir keine Zeit für seine Belange haben, weil uns scheinbar Wichtigeres beschäftigt, weil wir uns nicht dafür interessieren und wir schlichtweg weghören – dann wäre es sinnvoll, innezuhalten und darüber zu reflektieren, warum wir durch unser Handeln bzw. Nichthandeln dem Gegenüber zu verstehen geben wollen, dass unsere Befindlichkeit in diesem Moment wichtiger ist als seine.

Wir halten unsere „Dinge“ für bedeutender als sein Anliegen und verweigern uns, ihm zuzuhören, als würden wir fürchten, durch diesen Akt unsere Lebenszeit zu verkürzen.

Zuhören erfordert Vertrauen
Wer diesem Wort zuhört, muss zunächst glauben. Glauben im Sinne eines existentiellen Schrittes, der zum inneren Sehen führt. Dieser Schritt ist leichter zu vollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im Lateinischen „sehen“ (videre) in tiefem Zusammenhang mit „glauben“ (= sich zeigen = sibi videri) steht. Damit ist der Weg in das „Sich-Einlassen“, in den Glauben (fides), in das „ich vertraue“ (confido) geöffnet. Und es bedarf ebenso des Dankes, um dem Wort zu glauben. Denn „danken“ ist verwandt mit „denken“, denken aber bedarf der Vernunft, „Vernunft“ stammt von „vernehmen“ und das heißt „hören“. Wie es ist nun möglich, wirklich zu hören? Indem man sich auf das Wort einlässt, es erinnert, von innen her beginnt zu hören; indem man durch das Wort hindurchhört und den, der sich preisgibt, den Geber des Wortes, sieht. Jedes Wort hat Wert.

Die sieben Tugenden
Platon unterscheidet vier Kardinaltugenden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit sowie Gerechtigkeit. In der christlichen Philosophie gibt es noch drei weitere: Glaube, Liebe und Hoffnung. Erstaunlicherweise haben alle diese Tugenden mit dem Zuhören zu tun.
– Weisheit: kann man ohne Zuhören nicht erringen.
– Tapferkeit: derselben bedarf es beim Hören auf die innere Stimme.
– Besonnenheit: nur durch die Spiegelung des anderen vermag ich mich zu beherrschen.
– Gerechtigkeit: „audiatur et altera pars“ heißt es beim römischen Gericht – es möge auch der andere Teil gehört werden.
– Glaube: um zu glauben, muss ich vorher zugehört haben.
– Liebe: wenn ich meinem Gegenüber nicht zuhöre, kann ich es nicht lieben.
– Hoffnung: durch das Zuhören vermittle ich dem Sprechenden die Hoffnung, verstanden zu werden, also nicht umsonst zu reden, und bin gleichzeitig selbst voller Hoffnung, durch mein Handeln etwas Gutes zu bewirken.

 


Dr. Hans Christian Meiser
www.juliaandthelovebirds.com
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